.

Dienstag, 1. März 2011

Rhytmus regiert

Nummer Siebenundzwanzig fühlt sich vollkommen durchdrungen von der Musik. Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Der Bass dringt in kurzen Stößen aus den Kopfhörern und findet Eingang in ihr Ohr. Wie durch eine Spritze gedrückt schießt er direkt ins Gehirn und breitet sich dort aus. Hunderte, tausende Bassschläge gehen diesen Weg und kursieren in ihrem Kopf wie auf unzähligen Achterbahnen.

Die Bässe rasen von einer Seite zur anderen, von oben nach unten, springen umher wie bei einem Flipper. Synapsen werden stimuliert und schicken Signale weiter. Botenstoffe werden ausgeschüttet, verbreiten sich wie feiner Goldstaub und mit der Zeit beginnt der ganze Kopf zu leuchten. Und vom leuchtenden Kopf breitet sich ein wohliges Gefühl aus, in jeden Winkel des Körpers. Hinunter in den Brustkorb, wo es warm wird, in den Bauch, der angenehm anfängt zu kribbeln. Hinunter in die Beine, bis in die Zehenspitzen. Muskeln beginnen zu zucken. Alle Gebrechen, alle Schmerzen sind vergessen. Alle Sorgen, alle Zweifel, jeder Gedanke, egal ob gut oder schlecht, entweicht langsam dem leuchtenden Kopf. Es bleibt nichts als der Rhythmus, unendliche Wiederholung. Völlig losgelöst von allem, die Welt vergessend und vergessen von der Welt. Nummer Siebenundzwanzig lächelt. Sie kann das Lächeln nicht abstellen. Solange die Musik in ihrem Kopf ist, hat sie keine Kontrolle darüber. Musik ist die stärkste Droge von allen, begreift sie.

Nummer Siebenundzwanzig stellt sich eine Welt vor, in der erkannt wird, wie mächtig die Musik ist und in der diese Macht genutzt wird, um die Menschheit zu steuern. Jederzeit würde jeder einzelne Mensch von einer Musik beschallt, die sein ganzes Leben lenkt. Ohne die Musik wäre der Mensch wie eine leere Hülle, er würde verkümmern und sterben. Er bräuchte Musik, um morgens aus dem Bett zu kommen, er bräuchte sie, um Nahrung zuzubereiten und aufzunehmen, er bräuchte Musik um das Haus zu verlassen, irgendwohin zu gehen, irgendetwas zu produzieren. Er bräuchte Musik, um mit anderen Menschen zu kommunizieren, er bräuchte Musik, um sich vor seiner Außenwelt zu schützen, er bräuchte Musik, um sich fortzupflanzen und er bräuchte Musik, um einzuschlafen. Für jeden Schritt, jeden Blick, jede Bewegung bräuchte er Musik. Sie würde ihn antreiben wie ein Kraftstoff. Seine Schuhe würden beim Gehen im Takt der Musik auf das Pflaster treten, im Sitzen würden seine Fingerkuppen im Takt auf die Kante eines Tisches klopfen und in der Nacht würde sich seine Atmung dem Rhythmus der Musik anpassen. Der Mensch wäre ein Sklave der Musik. Sie wäre sein Joch und gleichzeitig seine Erfüllung, seine ganze Liebe, der Sinn seines Lebens.

Die gesamte Bevölkerung würde durch Musik beherrscht, und die Herrscher wären die, welche die Musik kontrollieren. Sie würden die Musik lauter oder leiser drehen, die Frequenzen verändern, die Harmonien wechseln. An einem großen Mischpult über die ganze Welt wachen. Sie würden die Anzahl der Beats per Minute bestimmen und damit den Rhythmus jedes einzelnen Menschenlebens. Sie würden die Musik einsetzen, um Menschen zueinander finden zu lassen oder voneinander zu trennen. Sie würden bestimmen, ob sich Menschen lieben oder hassen, sie würden den Menschen durch die Musik jede erdenkliche Tätigkeit ausführen lassen können. Bei Fehlverhalten eines Menschen würde er mit Musik gefoltert und bestraft. Die grausamsten Töne würden dann an sein Ohr dringen und ihn mit Schmerz und Verzweiflung durchdringen. Als Belohnung aber gäbe es eine Musik, die so schön, so wohlklingend ist, dass ein Mensch sie sich gar nicht vorzustellen vermag. Besser als die Wirkung jeder chemischen Substanz, die in unserem Universum herzustellen ist, als jeder Orgasmus, als jeder unmöglichste Traum vom Fliegen würde diese Musik jede Faser seines Körpers mit Glück erfüllen. Wenn sie vorbei wäre, würde der Mensch in ein tiefes Loch fallen, nur aufgefangen durch eine andere Musik. Eine banale Musik, eine Art Grundnahrungsmittel, die ihn zum weiterleben antreibt, die ihn steuert und nicht zulässt, dass er stirbt. Sie würde ihn nicht befriedigen er würde jede Minute an das einmal gehörte Wunderbare denken und alles tun, um nochmal belohnt zu werden und in die Gunst zu kommen, diesen schönsten aller Klänge nochmal zu erleben.

Die vollkommene Kontrolle, denkt sich Nummer Siebundzwanzig, öffnet die Augen und schaut auf die Stadt hinunter. Von der Geburt bis zum Tod gefangen im Rhythmus. Lichter blinken verschwommen vor ihren Augen. Der Wind riecht nach heißem Metall. Ein Gewitter liegt seit einer Ewigkeit in der Luft. Sie konzentriert sich wieder ganz auf die Musik und fühlt sich vollkommen eins wird mit dem Rhythmus, wie er ihr ganzes Sein übernimmt. Sie richtet sich langsam auf, streckt den Rücken durch und glättet ihre Hose. Sie bläst sich die Haare aus dem Gesicht und lässt den Blick über die Dächer wandern. Schließlich atmet die tief durch, nimmt die Kopfhörer ab und die Wirklichkeit dringt kreischend an ihr Ohr. Sie presst sich die Hände an den Kopf, aber es lässt sich nicht abschalten. Sie steht ganz alleine und sie schließt die Augen und springt.


1 Kommentar: