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Sonntag, 30. Oktober 2011

Der Störenfried

Erinnert ihr euch noch an die Schulzeit? An die ganzen Streber, an die Muttersöhnchen, an die letzte Reihe und an die „Störenfriede“? Wobei die, die den Frieden störten, meist auch die aus der letzten Reihe waren? Wer und was ist überhaupt ein Störenfried? Und welcher Frieden wurde in der Schule gestört? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es ziemlich hilfreich, dem Störenfried zunächst seinen Gegenpart, nämlich den Streber, an die Seite zu stellen. Der Streber ist einer, der im Prinzip viel für die Schule macht. Während der Störenfried zwar auch was für die Schule macht, indem er beim Bäcker klaut, Traditionen wie Blasrohrschießen und Schwammattacken zelebriert, oder hin und wieder ein Tütchen Gras vertickt, besteht der Einsatz des Strebers eher darin, die vom Schulapparat vorgegebenen Aufgaben und Leistungen zu erfüllen. Sein Einsatz ist dabei höher als der von anderen Schülern und wird in den meisten Fällen auch durch entsprechend gute Noten belohnt. Zwischen dem Streber und dem Störenfried liest sich ein Spektrum von vielen Schülern die mal mehr und mal weniger über die Strenge schlagen, im allgemeinen aber relativ gut an die Schule und deren Vorgaben angepasst sind. Der Störenfried, oder, der mit dem dicken, roten Minus im Notenbuch, ist wohl am wenigsten angepasst und ihm wird deshalb von Seiten der Schule auch ein Minimum an Aufmerksamkeit geschenkt. Er ist eben einer, der den Frieden stört. Einer, den die Schule nicht haben will. Ist das so? Und ist das eigentlich nicht ziemlich dumm? Nahezu „pädagogisch nicht vertretbar“? Es ist natürlich so, und das aus einem ganz einfachen Grund: Die Schule ist die erste wirklich prägende Instanz, die uns auf ein Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll. Dabei hat sie nicht die Aufgabe kritische Pluralisten und Philosophen auszubilden, sondern möglichst gleiche, der jeweiligen Ideologie fröhnende Menschen hervor zu bringen, die später in den herrschenden gesellschaftlichen Strukturen möglichst einfach zu lenken sind. Aus der gesellschaftlichen Perspektive heraus, ist die Gleichmachung von Schülern also keineswegs dumm. Sie ist sogar sehr nützlich. Nützlich deshalb, weil die Schule dem Individuum Ideen von Gut und Böse, von Recht und Moral und von einem guten und erstrebenswerten Leben vermittelt, die dann später, nach der Schulzeit, von einer Vielzahl von Organisationen und Institutionen aufgegriffen werden können. Der persönliche Kontext eines Schülers, der Dinge wie Familie und Freizeit umfasst, ist aus der Sicht der Gesellschaft idealerweise auf einen erfolgreichen Schulabschluss ausgerichtet. Auf gute Noten und Angepasstheit. Vorstellungen von Begriffen wie „Ordnung“ und „Fleiß“ gehören genauso zur „Erziehung“ eines jungen Menschen wie die Beantwortung sehr grundlegender Fragen: Wer bin ich, was kann ich wissen, was soll ich tun, was kann ich hoffen?


Diese Fragen treten früher oder später bei der Bewusstseinswerdung des eigenen Ichs auf. Sie sind eine gute Grundlage um sich über sich und die Welt Gedanken zu machen, Kritik zu üben, zu hoffen und etwas für die eigenen Wünsche und Träume zu tun, die sich wiederum aus diesen Fragen ergeben. Gleichzeitig bieten diese Fragen den Anknüpfungspunkt für Vorschläge, die nicht unbedingt unserem eigenen Verstand entspringen, sondern von Verfassungen, Staaten, Institutionen und sehr allgemein: allen möglichen herrschenden Strukturen vorgegeben werden. Diese Vorschläge sind meist so konzipiert, dass es für die tägliche Organisation von Gesellschaft möglichst einfach wird, uns mit einem geringen ökonomischen Aufwand hin- und hersteuern zu können. „Mobilität“ und „Flexibilität“ sind dabei lediglich erschaffene Vorstellungen, die uns immer wieder eingeimpft werden und uns Glauben machen sollen, dass wir einen gewissen Grad an Eigenkontrolle hätten. Wer sich in der Soziologie mal mit Sozialstruktur und anderen Dingen, oder generell mit wissenschaftlichen Theorien der Sozialwissenschaften beschäftigt hat, der ahnt, dass unser lächerliches hin- und hergerücke längst aufgezeichnet und ausrechenbar ist.

Bedürfnisse stiften

Das perfide Handwerkszeug der Gesellschaft sind Methoden und Instrumente zur Sinnstiftung. Kapitalismus und Liberalismus, Technologie und Fortschritt sind nicht nur Schlagwörter die im Grunde genommen ein und derselben ideologischen Vorstellung vom modernen „guten Leben“ anhängen, sondern nahezu grundsätzliche Prinzipien darstellen, für die es sich lohnt zu leben, mit denen es sich lohnt zu leben, und ohne die unser Leben in den Ländern westlichen Wohlstands unvorstellbar wäre. Dabei wird leider viel zu oft verkannt, dass diese Prinzipien zwar irgendwann einmal vom Menschen durch Wissenschaft, Revolutionen und technischen Fortschritt hervorgebracht wurden, heute aber nicht zwangsläufig von jedem einzelnen reproduziert werden müssen. Die Sinnstiftung erfolgt im Gros zwar industriell und über die Vermittlung von Recht und Kultur - und wird dabei durch Aufklärung und die Wissenschaft gedeckt. Der eigene Verstand ist aber immer noch menschlich und immer noch geblieben und kann immer noch relativ problemlos abgerufen werden.

Propaganda betreiben

Probleme kriegt der Verstand nur durch die Herrschaftsmethoden und die Instrumente zur Steuerung von Individuen in der Gesellschaft. Wer gerne nachdenkt merkt ziemlich schnell, dass diese Elemente nicht zu unterschätzen sind. Plakate einer Bio-Kette mit der Aufschrift „500m² Unterschied“ platzieren genauso faschistische Ideen im Kopf, wie die plumpen Aktionen der NPD. Eine „Schutzwaffe“ ist genauso irreführend wie der „Atomausstieg“, weil bei letzterem bereits beim Einstieg der Ausstieg unmöglich wurde und eine Waffe eben eine Waffe ist. Besonders die Werbung und die Streuung von Begriffen und Vorstellungen über die Medien auch im politischen Auftrag, sind poluläre und vor allem wirksame Mittel im Kampf gegen den Verstand des Einzelnen. Wer glaubt, dass Propaganda zum dritten Reich gehört und es so etwas wie Propagandaforschung nur in der Fiktion gibt, der denkt wahrscheinlich auch, dass Public Relations nur mal eben was nettes verkaufen wollen. PR und Werbung sind neue Formen von Propaganda, die vielleicht weniger plakativ sind, weniger Feindschaft und Stereotype produzieren, dafür aber viel subtiler – und deshalb nicht weniger gefährlich – auf die Beeinflussung von Menschen abzielen. Der Entscheidung zwischen „Überredung“ oder „Überzeugung“ findet bei PR und Werbung keine einheitliche Verwendung. Überwiegend wird meiner Meinung nach überredet, also nicht einmal auf ein Mindestmaß an logischer Konsistenz geachtet, um Leute von irgendeiner Marke oder einem bestimmten Produkt zu überzeugen. Bei den Produkten handelt es sich mitnichten nur um industrielle gefertigte oder am Computer programmierte Güter und Dienstleistungen, sondern um alles und alle, die uns von ihren vermeintlichen Vorzügen überzeugen wollen: Ideale, Religionen, Politiker, Wandschränke und Eisbären.

Angst schüren

Ein zweites Mittel, welches nahtlos an moderne Propaganda anknüpft, ist die Verbreitung von Angst. Verwendet wird sie vor allem, um innergesellschaftliche Grenzen zu ziehen und diese aufrecht zu erhalten. Bei „Terrorismus“, „Alter“, „Krankheit“ und „Arbeitslosigkeit“ handelt es sich im Grunde um Konstrukte, die neben der Abgrenzung zwischen Menschen die durch diese Begriffe beschrieben und nicht beschrieben werden sollen, eine starke Bindung zu den herrschenden Strukturen schaffen. Auf den ersten Blick scheint es paradox, dass aus Angst Vertrauen entstehen soll. Wenn jedoch die Flucht vor der Angst in die Arme des scheinbaren Problemlösers in Form von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen führt, dann löst sich das Paradoxon im eigentlichen Zweck auf: Der Arbeitslose nimmt institutionelle Förderangebote wahr, der Arbeitende biedert sich bei seinem Vorgesetzen an, um nicht arbeitslos zu werden. Und er grenzt sich geistig vom Arbeitslosen ab.
Diejenigen, die den Terrorismus fürchten, stimmen staatlichen Sicherheitsmaßnahmen und umfassenden Eingriffen in die Privatsphäre eher zu als die, die sich vor Terrorismus nicht in die Hose machen. Oftmals sind letztere weitaus besser informiert und bilden in sich selbst eine relativ geschlossene elitäre Gruppe, die sich wiederum in vielen Lebensbereichen gegenüber den „Uninformierten“ emanzipiert fühlt. Dass ein solcher Informationschauvinismus auch zum Ausdruck von Ignoranz gegenüber vermeintlich weniger Informierten führen kann, oder aufklärerisch-missionarische Züge annimmt wie man sie oft bei sogenannten Verschwörungstheorien beobachtet, ist nur eine von vielen Konsequenzen die sich aus einer krassen Ungleichverteilung von Informationen und Verfügbarkeit von Wissen ergeben.

Wie pervers das Kreieren von Angstvorstellungen werden kann, fällt aktuell vor allem am Begriff der „Islamophobie“ auf. „Islamophobie“ bedeutet etwas freier übersetzt eine Ablehnung, eine Angst vor „dem Islam“. Einmal wird hier eine gesamte Religion und deren Anhänger ziemlich stumpfsinnig zu einem alleinstehenden Angstobjekt zusammengefasst, während es zweitens schon sehr masochistisch ist, dass das Wort „Phobie“ mit seinem psychologischen Ursprung in dieser Wortschöpfung verpackt wird: Eine Phobie klingt ziemlich krank. Sie beschreibt im Sinne einer „Islamophobie“ also eine krankhafte Angst vor dem Islam. Nicht nur, dass dieser Begriff mit Stereotypen nur so protzt, erschwert die „Phobie“ auch eine nüchterne, vernunftgeleitete Auseinandersetzung mit dem Phänomen selbst: Nämlich dass es tatsächlich Leute geben soll, die Angst vor "dem Islam" haben. „Islamophobie“ stößt einem mehr oder weniger beiläufig in allen Zeitungen auf, man hört den Begriff im Radio und im Fernsehen und bekommt mindestens genauso viel Angst vor diesem Wortmonster und seiner Bedeutung – es wäre möglich eine krankhafte Angst vor dem Islam zu attestieren – wie dass man sich vor irgendwelchen Islamisten fürchtet, deren Schreckensbilder sowieso ausschließlich in den Medien kursieren. Die Erkenntnis über diese Islamisten, die nichts anderes sind als geistig verwirrte Glaubensanhänger und eben keine Muslime, hat unsere Gesellschaft nicht der Propaganda zu verdanken. Die behauptet nämlich Gegenteiliges.

Der Störenfried

Autoritäten, Polizei, Bildungssystem, Medien, Kapitalismus, Kultur und Aufklärung haben die Aufgabe Lebensformen und Grenzen von persönlicher Freiheit aufzuzeigen und zu verwalten. Das Zusammenspiel dieser Instanzen bestimmt dabei nicht nur die Möglichkeiten individueller Entfaltung, sondern auch die Konstitution und Stimmung einer Gesellschaft in einem Staat, über staatliche Grenzen hinweg und auf globaler Ebene. Im Grunde ist es in totalitären Systemen viel einfacher, oder es braucht viel weniger Mut, sich gegen die Stimmung der Gesellschaft aufzulehnen, weil Unwahrheit und Betrug immer sehr offensichtlich sind. Viel schwieriger ist es hingegen bei uns in Deutschland, und es braucht eine Menge mehr Mut und vor allem Störenfriede, die sich gegen deutsche Politik, gegen Kapitalismus und gegen herrschende Formen kultureller Art auflehnen. Denn die Obrigkeit - in welcher politischen Ausprägung und Staatsform sie auch immer auftritt - möchte keine Veränderungen, hasst mündige und kritische Bürger und versucht mit den subtilsten und cleversten Mitteln Trägheit und Konformismus zu verbreiten, damit sie sich möglichst lange selbst erhält. Auf den Menschen trifft es wohl wirklich zu, dass er es angenehm findet nicht selbst denken zu müssen und alle Möglichkeiten und Entscheidungen vorgekaut zu bekommen. Und was die Instanzen denken denen man hörig ist, das hätte man sich ja auch selbst denken können...

1 Kommentar:

  1. Störenfriede - die letzten echten Freigeister! Ich fühle mich zurückversetzt in Schulzeiten und durchaus verstanden! Grüße nach Big B aus Big L, yoarrr!
    Julian

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