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Sonntag, 13. Februar 2011

Transzendenz und Wiedergeburt

Er kniet in der Bank wie jeden Dienstag. Die Hände sind gefaltet. Sie ziehen Falten von Jahren harter Arbeit. Sein Rücken ist gekrümmt vor Demut. Andächtig senkt er seinen Kopf zu dieser Stunde an seinem besonderen Ort. Blutunterlaufene Augen schauen seinen Christus am Kreuz.

Der Eine blickt mit stummen Augen zurück.

„Gott warum hast du das getan?“, fragt der alte Mann mit den faltigen Händen. Seine Stimme läutet von den Wänden und erfüllt die Kirche bis hin zum Turm. Seine Worte durchdringen die Luft, durchdringen jeden Riss im alten Gemäuer, schwingen vom Altar bis zur Tür und von dort zurück. Sie bemächtigen sich des ganzen Augenblicks.

Der eine am Kreuz hört ihn nicht.

Sein Blick streift die bemalten Kirchenfenster. Sie wirken so lebendig und doch so kalt. Das letzte Abendmahl, die Kreuzigung, Auferstehung und Fahrt in den Himmel. Ein Wechselspiel aus Leid und Hoffnung. Dem Diesseits so nah. Sie spenden Trost und Zuversicht - eine Hommage an das Leben. Doch die Figuren schauen ihn mit trügerischen Augen an.

Der eine am Kreuz sieht ihn nicht.

Die flackernden Kerzen werfen Schatten an die Wand. Der Wind, der durch die Risse des alten Gemäuers bläst, lässt die Schattenbilder tanzen. Dunkle Fratzen huschen um das Feuer des Übersinnlichen. Angeregt durch die Droge des Schauspiels, lässt sich der alte Mann von ihrer Botschaft verführen. Er schließt seine Augen und gibt sich ihnen hin. Er verschließt seinen Geist und fühlt sich dem Schöpfer ganz nah.

Der eine am Kreuz spürt ihn nicht.

Noch einmal ruft er: „Warum hast du das getan?“, während er den bronzenen Jesus mit seinen roten Augen durchdringt. Sein Geist erwacht als das Echo seines verzweifelten Rufs von den kalten Mauern ungehört zurück an seine Ohren dringt. Er sieht sich um und bemerkt seinen eigenen Schatten an der Wand des Kirchenschiffs. Seine Beine sind vom langen Sitzen eingeschlafen und als er aufsteht, spürt er wie das Leben in sie zurückkehrt. Er beobachtet wie der fette Priester den Leib Christi am goldenen Schränkchen auffüllt. Das protzige Kruzifix baumelt von seinem fleischigen Nacken. Der alte Mann mit den faltigen Händen steigt aus der Bank und bläst die Kerzen aus.

Der alte Mann mit den faltigen Händen verlässt die Kirche. Seine Worte und seine Augen haben ihm den Glauben an die Menschen zurückgegeben. Seine Worte sind nicht mehr stummer Widerhall, sondern lebendig. Seine Augen sind nicht länger geblendet, sondern offen. Sein Geist ist nicht länger Schatten, er ist frei. Seit dem Tod seiner Frau konnte er nicht mehr lächeln, nun tut er es. Der alte Mann mit den faltigen Händen hat das Stück durchschaut und schließt den Vorhang. Er hat seine Religion verloren.

Den einen am Kreuz kratzt das nicht.

3 Kommentare:

  1. Hübsche Kurzgeschichte. Vielleicht konnte der alte Mann ja doch die Frage nach dem Sinn des Unglücks, das ihm wiederfahren ist, bei Gott lassen. Ob es den nun wirklich gibt oder nicht ist für das psychologische Moment der Erleichterung durch ein Abladen der Sinnfrage doch eigentlich Hupe. Solange Religion dem einzelnen mit der Bewältigung seines Schicksals hilft und nicht in Fanatismus und Intoleranz ausartet, möchte ich die Lebensweise anderer akzeptieren. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du mit deinem Eintrag irgendwohin lenken willst, oder ob es dir lediglich darum geht, eine Diskussion anzufeuern. Im zweiten Falle sage ich auf jeden Fall bravö, bravö! Es ist dir gelungen!

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  2. Im übrigen möchte ich gerne ein Blog für den Blogroll vorschlagen: http://blog.fefe.de/

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  3. indem ich irgendwohin lenke, feuere ich hoffentlich eine Diskussion an

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