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Dienstag, 7. Februar 2012

Verkehrte Welt

Herrmann freut sich über jeden neuen Erwerb. Von Hause aus hat Herrmann gelernt, was es heißt, glücklich zu sein. Jeder neue Kaffee, jeder neue Latte macchiato erweitert seinen Horizont. Jeder neue Handyvertrag bringt ihm ein neues Handy, das noch mehr kann und noch mehr anerkannt wird als das alte. Wenn sein Vertrag ausläuft, dann bekommt Herrmann für nur einen Euro, oder dreißig Euro, oder fünfzig Euro ein neues Handy.

Doch richtig glücklich ist Herrmann erst wenn er vor seinen Freunden mit seiner Erfahrung mit Latte macchiato prahlen und sein neues, wahrscheinlich sechzehntes Mobilfunkgerät vorzeigen kann: „Seht mal her, ich hab mir diese neue App runtergeladen, mit der ich ganz einfach mein Urinbild untersuchen kann.“

„Was?“ fragt Michael, der ergonomische Klobrillen für reiche Ärsche übers Internet verkauft, „welches Modell ist das denn?“

Doch da hat Herrmann schon in sein Bierglas uriniert. Als er das halbvolle Bierglas auf den Tisch stellt, beugt sich die Runde neugierig über das Glas mit Herrmanns Pisse drin. Außer Michael sitzen dort noch Eva mit dem Burnout-Syndrom und Sophie, die ihren kleinen Hund Kevin mitgebracht hat. Kevin sitzt in seiner Hundetasche und ist der einzige, der nicht über die Tischkante sehen kann, wo Herrmanns Bierglas steht. Trotzdem schnüffelt Kevin aufgeregt und wackelt mit seinem Hundeschwanz, was allerdings keiner bemerkt, denn Kevin steckt ja in einer Tasche.
Wie verrückt muss es sein, als Hund einen halben Liter frischen Urin zu schnuppern und dabei in einer Tasche für Hunde gefangen zu sein? Das kann sich keiner der vier Freunde vorstellen.

„Du hast heute genug Flüssigkeit zu dir genommen, Herrmann!“, bemerkt Eva, die das Glas mit Herrmanns Pisse sehr genau unter die Lupe nimmt. „Dein Urin ist schiergar durchsichtig, Herrmann!“, schiebt sie fachmännisch hinterher, nachdem Herrmann ihr nicht antwortet.

„Ja, ich habe tatsächlich viel getrunken. Ich trinke immer viel. Das kommt daher, dass ich als Kind einmal ins Krankenhaus gekommen bin, weil ich eine Zeit lang zu wenig getrunken hatte. Ich bekam zuerst ganz schreckliches Bauchweh und als ich eine ganze Nacht lang vor Schmerzen nicht schlafen konnte, brachten mich meine Eltern in die Notaufnahme.“

„Da hast du ja Glück gehabt“, meint Eva. „Ich trinke immer zu wenig. Also ich finde das mit dem Krankenhaus gar nicht so schlecht. Du kannst eigentlich froh sein, dass dir sowas passiert ist! Jetzt achtest du wenigstens auf deinen Wasserhaushalt!“

„Ich trinke auch viel zu wenig“, wirft Michael ein.

Dann meldet sich auch Sophie zu Wort: „Ja ich auch. Mein Arzt sagt mir immer, ich solle zwei bis vier Liter pro Tag trinken. Aber ich schaffe im Schnitt nur anderthalb Liter. Ich habe einfach nicht so viel Durst!“

„Ja das kenne ich gut. Aber da muss man einfach den inneren Schweinehund überwinden!“

„Richtig“, sagt Herrmann.

„Richtig“, sagt Eva, die aufgeregt an ihren Fingernägeln knabbert. „Komm schon Herrmann, zeig uns was deine neue App kann!“

Daraufhin nimmt Herrmann sein Handy in die Hand und fängt an Fotos von dem Glas mit Pisse zu machen. Weder Sophie noch Kevin kriegen ihre Mäuler geschlossen. Während Kevin allerdings nur auf den Geruch des Urins abgeht, ist Sophie fasziniert von der modernen Technik, die es scheinbar möglich macht, Pisse in Daten zu verwandeln.

„Scheiße, da tut sich nix...“, murmelt Herrmann, nachdem er das zehnte Foto von seiner Pisse im Glas gemacht hat. Langsam werden alle Beteiligten ein wenig ungeduldig.

„Da hast du dir aber einen schönen Scheiß andrehen lassen, Herrmann“, sagt Sophie, und lächelt ihm dabei höhnisch zu.

„Ja“, kommt es von Eva, „einen schönen Scheiß.“

„Vielleicht musst du es auch einfach reinstecken“, meint Michael, der kreative Scheißhausdesigner.

„In das Glas reinstecken?“

„Ja, warum denn nicht? Das funktioniert bestimmt über einen Sensor!“

„Hm... ja okay, warum nicht?“ Schließlich wollen alle Herrmanns Urinbild analysiert wissen.

Also tunkt Herrmann sein Handy in das Bierglas. Die Runde wartet gespannt auf irgendein Zeichen.

„Ich würde es vorsichtshalber mal ganz reinstecken!“, sagt Michael nach zwei Minuten andächtigen Schweigens. „Wer weiß schon wo genau der Sensor sitzt?“

Recht hat er. Und so lässt Herrmann sein Handy in das Glas gleiten. Ein wenig Pisse spritzt dabei auf den Tisch und seine Hand. Doch die anderen lassen sich davon nicht irritieren. Und während Herrmann seine Pisshand am Hosenbein trocknet und der ganze Tisch auf ein Bierglas starrt, in dem sich ein halber Liter Urin von Herrmann und sein neuestes Handy befinden, schlägt Kevin verzweifelt seine Pfoten über dem Kopf zusammen.

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