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Donnerstag, 18. August 2011

Ein Reisebericht

Morgens halb Zehn in New York. Die Stadt, die niemals schläft beherbergt doch müde Menschen. Und oh Wunder: echte Menschen. Mit Augenringen und Anzug bekleidet wandeln sie zu Starbucks. Der Europäer denkt an Starbucks und meint schlechter Kaffee bei Kette sei eine alte Geschichte. In Amerika ist sowas doch längst aus der Mode. Haste dich geschnitten, vom-Hörensagen-Weltenbummler: In Amerika ist Starbucks Religion.



Die Riten sind nicht nur „Tradition“, sondern Habitus: „Einen Iced-Coffee mit Süß, bitte.“ Zwei Dollar Trinkgeld und ein Lächeln für den Sklaven hinter dem Bohnensack und der Kasse, wo es gemeinhin täglich klingelt. Aber nicht für ihn. Was das Süß im Becher des Augenringemenschen wirklich ist, keine Ahnung. Aber hey im Katholischen trinkt man ja auch das Blut Jesu Christi. Weiter geht es zum Altar mit Extra-Zucker, Milch, halbfetter Milch, Sojamilch und Strohhalmen zum selbst rausnehmen. Dort hebt man das Plastikum vom Heiligtum ab, schüttet den halben Pott kalten Kaffeegetränks in den Papiermüll und füllt den Becher wieder auf mit irgend einer Milch. Wenn die Gemeinde zuguckt mit Soja. Sind die Heiligen Hallen leer, dann mit Hochprozentiger. Schmeckt ja eh besser. Und Doppelmoral währt in New York doppelt so lang, aber mindestens ein Jahr.

Das „cya“ beim rausgehen gilt allen anderen Sündern die drinnen anstehen, sitzen und aufwachen. Dem Schwulen mit der Aufschrift „I am gay“ unter seinem mördertiefen V-Ausschnitt: Rot-Weiße Ringelsocken und eine American-Apparel-Uhr machen ihn schwul UND hip. Halleluja wie fancy, oder: echt voooll schöööön. Angesprochen fühlt sich auch der Hippie mit hüftlangem, wellenden Haar, das er elegant zur Seite streicht, um seine iPod-Kopfhörer zur Geltung zu bringen. Darunter baumelt ein verdammt hässlicher, goldener Ohrring. So wie den die Roma in der Regel und immer tragen. Auf seinem Mac-Book tippelt er einen Tweet an seine Mutter: „Um Eins Mittagessen beim Inder“. Hippies in New York sind halt noch wirklich cool und authentisch. So wie unsere Hippies, die sich einer Pop-New-68er-Rastafari-Nachhaltigkeitsbewegung anschließen und glauben damit die Welt verbessern zu können. Keine Frage dass wir das können. Aber vor allem vereint im Geiste und als Individuen. Nicht vekapselt in Gruppen mit erhobenem Zeigefinger gegenüber Andersdenkenden, oft mit zu viel Selbstbeweihräucherung, zu viel Gras und faschistischen Attitüden die von anderen gedacht wurden und jetzt scheinheilig für den Ausdruck von Individualismus missbraucht werden – oftmals unbewusst, immer ausgrenzend.

Jedenfalls stiefelt der Augenringenmensch im Anzug raus aus dem Kaffeeladen. Aus der Tür. Ein wenig wacher aber immer noch zum Wegpennen müde, schlurft er zur 5th Avenue. Zu Fuß.
Der Kaffe, der kein Kaffee ist wird auch von zahlreichen anderen getrunken. Kaffee. In der freien Hand liegt das iPhone, das unentwegt seinen Dienst tut: Musik auswählen, telefonieren, durch die Stadt navigieren. So funktioniert soziale Interaktion in den Straßen New Yorks – und in der Zukunft? Das kleine Kind braucht auf dem Weg zum Kindergarten nicht mal mehr eine elterliche Pfote, denn es hat ja sein iPhone. Es kriegt dort Spiele, Unterhaltung, Lernen, alles. Wozu ein weinendes, nervendes, nach Aufmerksamkeit bellendes Kind noch auf den Arm nehmen, trösten und sich etwas cleveres einfallen lassen, damit das Kind wieder lächelt? Vielleicht gibt’s ja bald noch bessere Technologie. Oder keine Kinder mehr. Oder nur noch Brillenkinder. Wegen den ganzen iPhones.

Jedenfalls geht der Augenringemensch weiter ohne weiter auf die Straße zu achten. Es gibt ja auch nichts zu sehen. Die weniger Selbstbewussten aber, die es nötig haben die Blicke der anderen zu checken, schauen den Augenringenmensch gelegentlich an. Doch der schwebt woanders und achtet nicht auf die Kleider von Abercrombie & Fitch, auf Gucci-Taschen und American Apparel möchtegern Individualisten. Niedergeschlagen hinsichtlich der wenigen Blicke gehen sie ironischerweise anschließend in eben diese Geschäfte, um sich kurz mal kreditkartenmäßig neues Selbstbewusstsein zu beschaffen. Konsum macht glücklich – keine Frage. Die Frage lautet aber: Für wie lange?

Der Liberalismus hat uns weit gebracht, denn er kennt kein Gemeinwohl, sondern nur das eigene. Und so kennen wir kein Gemeinwohl und krallen uns an pseudomoralische Handlungen, die wir auch gerne nach außen tragen: Ich kaufe nicht bei H&M weil ich dann Kinderarbeit unterstütze. Dass Abercombie & Fitch genauso produzieren, nur mit hochwertigeren Ressourcen und für mehr Geld ist die Crux. Trotzdem bin ich bereit für ein besseres Gewissen mehr zu zahlen und helfe damit nur mir selbst. Und vor allem tue ich das für die props von der posse!

Keine Moral in der Stadt der Verschwendung (aller Ressourcen, auch menschlicher), in der Stadt des hyperkrassen Liberalismus und des ungebrenzten Wohlstands – das ist Leben und leben lassen in New York. Sterben tun nur die anderen. Während der Augenringemensch tagsüber mit Milliarden jongliert, jongliert er abends mit Drinks und Frauen. Diese Frauen sind es, die seinen Sexualtrieb perfekt befriedigen. Auch sie brauchen keine Moral, keine Verständigung darüber wie miteinander umzugehen ist. Denn interagiert wird schlichtweg über Geld, über Besitz und die Anzahl der ausgegebenen Drinks. Weil das alle Kerle so machen, müssen sich die Frauen nicht mal - wie eigentlich zu erwarten wäre - mit den Hässlichen und Dicken abgeben. Und selbst wenn der Alte wie Peter Griffin aussieht (hehehehe): eine teure, hedonistische Nacht in einem Luxus-Appartement entschädigt für alles. Vielleicht springt dabei noch die ein oder andere Handtasche raus. Oder ein Blackberry. Oder ein ungewolltes Brillenkind mit iPhone.

Das Schlimme an dieser Geschichte ist nicht einmal, dass New York reichtumsmäßig einfach mal zehn Ligen über allem anderen schwebt. Denn wenn alle reich sind, führt das zu einer gewissen Normalisierung und es wird auf andere Kompetenzen Wert gelegt. Das verhält sich ähnlich wie mit dem Doping beim Radsport. Also das wirklich ärgerliche ist jedenfalls, dass dieser Reichtum ja nicht von Manhatten her rührt, sondern weltweite Kreise zieht und die New Yorker Gefahr laufen, zur Quelle ihres Geldes und zu ihrer Verantwortung gegenüber dieser Grundlage, schlichtweg den Bezug zu verlieren. Ich will mich ja hier nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber das sind schon alles richtige Arschlöcher da auf der Insel. Alle. Auch menschlich.

Auf jeden Fall ist der Augenringemensch eine fleißige Arbeitsbiene – Halb Mensch, halb Maschine. Der Augenringemensch ist vielleicht gestresst und ausgebrannt. Doch er macht Yoga, schluckt Pillen aus Pillen-Shops, bekommt die beste medizinische Versorgung beim Arzt. Entgegen des natürlichen Verfalls wird er sein Leben künstlich hinauszögern und sich in vielen Lebensbereichen der Natur entfremden: Elektroden trainieren seine Muskeln, hochgezüchtete (Haus-)tiere bepissen seinen Teppich und viereckige Melonen schmeicheln seinem Gaumen – oder doch nur seinem Hype? Und trotzdem wird er irgendwann sterben. Er wird sich dann die Frage stellen was er sein Leben lang gemacht hat, was er erreicht hat, ob es ein glückliches Leben war. Die typischen Fragen also. Er hat bestimmt hart gearbeitet und viel besessen: Er wohnt in New York, hat viel Geld, viele Frauen und einen Hund wie Paris Hilton. Voll süß. Er macht sich keine Gedanken über ethische Prinzipien, der kategorische Imperativ bedeutet für ihn, nach dem größtmöglichen Nutzen für sich selbst zu streben. Er hat nicht erkannt, dass der kategorische Imperativ dann nicht aufgeht, weil sich nach diesem höheren Gesetz niemand um ihn kümmern würde. Was er erkannt hat ist, dass er mit seinem Prinzip im Liberalismus am besten angepasst ist, die Wirtschaftsweise bestmöglich unterstützt und mit vielen Gleichgesinnten zuversichtlich aber blind in die Zukunft schaut. Was er nicht erkannt hat ist, dass sein Lebensprinzip nicht aus ihm selbst hervor geht, sondern durch die Wissenschaften, Strukturen, Ideologien und Handlungen von Staaten veräußert und ihm selbst implementiert wurde. Er hat nie gelernt, oder wollte es nicht lernen, seinen Verstand ohne die Leitung durch vermeintlich weisere, autoritäre Herrscher zu gebrauchen. Was hat er also selbst erreicht, wenn die Bedingungen und Grundlagen seines Denkens und Lebens bereits festgelegt waren? Was hat er getan um sich selbst zu verwirklichen? Und hatte er ein glücklicheres Leben als derjenige Pluralist, der sich und seine Umwelt ständig hinterfragt hat und aus moralischen, menschlichen und eigenen Überlegungen heraus nicht oder weniger angepasst war, also gewissermaßen unregierbar?

Wer einmal in New York war und den einprägsamen Satz „If you can make it in New York, you can make it everywhere“ für bare Münze hält und keinen furchtbaren Zynismus darin entdeckt, der ist auf dem besten Weg zur Augenringemenschwerdung. Mit Brillenkind oder ohne.

Hinfliegen lohnt sich. Auch wenn man seine Apfelschorle vorher austrinken muss und Polizisten, die atsreine GTA-Charaktere darstellen würden, sich bis ins kleinste für dich und deinen Anus interessieren.

2 Kommentare:

  1. Warum beschreibst Du das alles unter der Kategorie Liberalismus? Ich sehe darin vielmehr überhöhten Kapitalismus.
    nichtsdestotrotz sehr interessant zu lesen.

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  2. Cool dass es dir gefällt! ich benutze liberalismus weil der begriff äußerst gerne von politikern verwendet wird, die dessen ökonomische dimension gezielt unter einer rein politischen Sichtweise "verstecken". So nach dem Motto: liberal sein heißt frei sein in Entscheidungen, Fortschritt, Offenheit, Menschenrechte. DIe Ökonomie wird dabei oft außen vor gelassen. Im ökonomischen Sinne bedeutet Liberalismus als Ideologie aber nur Eigennutz, der Mensch als Unternehmen. Ein homo oeconomicus der nur an sich denkt. Das wollte ich deutlich machen ...

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