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Montag, 20. Februar 2012

Neujahrstag

Es war anders gewesen und würde nie wieder so sein.

Es ist 08:37 Uhr und meine Gedanken rasen chaotisch durch meinen Kopf während ich den vermüllten Hamburger Hafen betrachte. „Nächster Halt Baumwall“ – langsam zieht die in der Morgensonne erleuchtete U-Bahn Station an meinen Augen vorbei. Mit der ersten Kurve weg vom Wasser verlässt mein Blick das Fenster und sucht nach Gleichgesinnten im Waggon. Ein Obdachloser unterhält sich lauthals mit seinem Rucksack während er die Flaschenbeute vom Abend zählt und den traurigen Hund neben sich mit einer Hand tätschelt; ein schlafender junger Mann mit schiefer Brille liegt mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt seitlich vor mir und aus Erfahrung weiß ich, dass der Kotzfleck auf seiner Jeansjacke nie aufhören wird zu stinken; dann steht da noch eine junge Frau in einem viel zu kurzem Rock für ihre Figur (außerdem hat sie offensichtlich ihre Jacke verloren, da ihre kräftigen Arme frei zu sehen sind, was bei dieser Kälte an Selbstmord grenzt) und die verschmierte Schminke unter ihren Augen sagt mir, dass auch sie keinen guten Abend hatte; als letztes drehe ich meinen Kopf und sehe ein altes Ehepaar: offensichtlich Touristen, er mit Stadtplan und sie schaut mit dem besorgten Blick einer alten Frau die nie gearbeitet hat in Richtung des Fahrplans an der Decke. Wäre ich nicht so angetrunken und sentimental würde ich mich zu ihnen setzen und ihnen helfen, aber ich bin es jetzt gerade. Ich fühle mich einsam.

Ich schaue wieder aus dem Fenster und bin zurück in meiner Ergründung des Abends. Eins war mir klar, auch sie müssen es gemerkt haben. „POFF“ – ich erschrecke mich fast zu Tode und selbst mein vollgekotzter Gegenüber guckt kurz hoch. Irgendein Idiot muss einen der übriggebliebenen Böller mit perfektem Timing an die Scheibe direkt neben mir geworfen haben. „Hahaha du Angsthase“ ruft der Penner und schaut mich für einen Moment an, bevor er wieder in den Rucksack greift und sich wie ein kleiner Junge über Knallerbsen freut, als er eine volle Flasche Bier herauszieht. Sofort greift sich eine andere Flasche und öffnet sie.

„PLOPP“ – wir alle lachten übertrieben laut und während Frederike den Schampus einschenkte riefen alle im Chor: „10, 9, 8...“. Während des Countdowns blickte ich sie alle an. Die Clique: Mark, der Bär und die Zielscheibe aller freundschaftlichen Hänseleien; Luise, „...7, 6...“ die große Blondine, die Zentrum all unser Fantasien war und wieder mal einen neuen Freund dabei hatte; Frederike, die ruhige Cliquenmama die ihre braunen Haare dieses Jahr abgeschnitten hatte und kurz trug; „...5, 4...“ Robbie, der durchtrainierte, sehr simpel gestrickte Macho, der stark an Mark Wahlberg erinnert; Chrisch, der schlaksige Freund von Frederike, dessen vielversprechende Fussballerkarriere nach der dritten Knie-Op bei der HSV A-Jugend endete; „...3, 2...“ und zu guter Letzt Sophie, meine Ex-Freundin. Es war das erste Sylvester seit unser Trennung und ich merkte gerade jetzt als sie lächelnd sah, dass es die falsche Entscheidung gewesen war zusammen zu feiern „...1“.

Zuerst umarmte ich Robbie weil er direkt neben mir stand und ich dadurch die Umarmung mit Sophie hinauszögern konnte, dann den Rest der Gruppe (inklusive Felix dem neuesten Sklaven von Luise, von dem wir alle wussten, dass er ihr nicht das Wasser reichen konnte und er spätestens in 4 Wochen ersetzt werden würde), bis dann nur noch Sophie blieb. Sie stand da und schaute mich verlegen an, genauso wie ich. Wir beiden wussten das wir es tun mussten um den Abend nicht noch unangenehmer zu machen. Also gingen wir aufeinander zu und zwangen unsere Körper so nah aneinander wie seit 5 Monaten nicht mehr. Ich roch es sofort, CK IN2U und dazu diese Gesichtscreme mit Vanille. Für den Moment wünschte ich mich wieder zurück ins Bett mit ihr in unsere Zweisamkeit, bevor passiert war, was passiert ist. Die Umarmung fiel einen Moment zu lange aus und als wir uns losließen trafen sich unsere Blicke für einen Moment und ich konnte sehen, dass es extrem unangenehm war. Ein schrecklicher Moment wenn man merkt, dass der Ex-Partner weiter ist in der Verarbeitung und abgestoßen ist von dem Gedanken wieder Nähe zu teilen. Als wir uns umdrehten setzten sich die anderen wieder an den Tisch. Bleigießen und das Mitternachtsraclette, wie schon seit wir 15 waren.

Die Minuten vergingen wie Stunden. Ich saß da, einerseits drauf erpicht keine Stille zuzulassen, weil es kaum etwas gab was ich mehr hasste als Stille zwischen Menschen. Andererseits merkte ich, dass die unangenehme Ruhe aus einem Grund da waren. Der Grund waren Sophie und ich, davon ging ich zumindest aus. Zwar wussten nicht alle, dass wir der Grund waren, aber ich war überzeugt davon. Was hatte ich erwartet, klar ich hatte Sophie damals in die Runde gebracht und irgendein Dämon in mir drin forderte nun Vergeltung und Hass aus Loyalität vom Rest der Gruppe. Dabei war ich mir durchaus bewusst, dass dies kindisch war und Sophie inzwischen genau so integriert war wie ich. Dennoch: je betrunkener ich wurde, desto größer wurde meine Wut auf sie und die anderen. „Sie trägt diese Gesichtscreme doch nur weil sie dich heiß machen will und dann abblitzen lassen möchte!“ sagte eine Stimme in mir. Ich betrachtete sie zwischen dem Nebel aus Jointrauch, dem Sylvesterzigarrenpaff und dem Gestank von diesen ekligen Würsten die aus Tischfeuerwerk kamen.

„Prost“ durchbrach Mark die Stille und hielt mir sein Bier vor die Augen. Ich schaute ihn an und prostete ihm zu. Mark war einer dieser Freunde, die immer dabei waren, aber mit denen man sich trotzdem nie alleine traf. Irgendwie hatte ich mich ihm gegenüber intellektuell immer so überlegen gefühlt, dass ich nie ernste Themen mit ihm besprach. Komischerweise merkte ich jetzt, dass mich gerade lesen konnte wie ein Buch. Ich hatte das Gefühl er konnte mir direkt in die Seele sehen und merkte was ich dachte. „Es ist vorbei“ sagte er dann ganz leise. Ich wusste, dass er Recht hatte. Ich wusste in diesem Moment auch, dass dies mein letztes Sylvester in der Runde war. Es war nicht nur die Sache mit Sophie und mir. Wenn man in dieselbe Klasse geht, dann ist man befreundet weil man Erfahrungen geteilt hat und zusammen das erste Mal getrunken hat, gefeiert hat, geknutscht hat. Aber jetzt hatten wir alle damit abgeschlossen. Ich war 3 Jahre weg studieren gewesen, Mark hatte seine Ausbildung als Logistik Kaufmann fertig gemacht, Frederike arbeitete jetzt schon seit 2 Jahren in der kleinen Werbeagentur in der Schanze und so weiter. Wir hatten alle unsere eigenen Entscheidungen getroffen und verschiedene Wege gewählt. Irgendwann wählte man seine Freunde selektiv aus und wir wussten, dass unsere Zeit vorbei war. Ich würde diese Gruppe nie vergessen, aber unsere Zeit war vorbei. Um Gordie aus Stand by me zu zitieren, „Ich hatte später nie wieder solche Freunde wie damals mit 12. Aber mein Gott, wer hat die schon?“.

„PROST“ schrie der Obdachlose und riss mich aus dem erneuten Durchleben der Nacht. Ich betrachtete erneut die anderen Gäste, inzwischen waren noch mehr Leute hinzugestiegen und da das Bier den obdachlosen Mann okkupierte, war es für einen Moment still. Mir wurde bewusst, dass es solche Momente wie diesen nicht oft gab. Ca. 15 Leute auf einem Fleck und alle in ihren Köpfen beschäftigt mit ihren eigenen riesigen Gedanken – Neujahrstaggedanken. Meine waren: „Werde ich Sie vergessen können? Kann ich mich je wieder so verlieben?“. Während ich die anderen studierte und mich fragte was sie denken, fühlte ich mich plötzlich nicht mehr so allein. Es war eine tolle Zeit, aber jetzt war sie vorbei.

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